zur Erinnerung
Unser Vater, der Bergmann

Von Gabi Thieme

Erschienen am 14.12.2019

Ein Kumpel im Stollen: In der linken Hand hält er einen Erzbrocken, in der rechten hat er einen Geigerzähler. 1962 entstand dieses Foto. Es ist eines von 160.000 Bildern, die im Archiv der Wismut aufbewahrt werden. Als die Aufnahme vor wenigen Tagen auf der Titelseite der "Freien Presse" erscheint, ist das für eine Familie im Erzgebirge ein Gänsehautmoment.

Das Bild von Hauer Walter Fettke war am 7. November 2019 Titelfoto in der "Freien Presse". Das Bild von Hauer Walter Fettke war am 7. November 2019 Titelfoto in der "Freien Presse".
Foto: Wismutarchiv

BREITENBRUNN/HARTENSTEIN -
Als Anita Weigel am Morgen des 7. November 2019 die "Freie Presse" aus dem Briefkasten nimmt, erschauert die Breitenbrunnerin für einen Moment. Das Titelbild zeigt ihren Vater, der seit zwei Jahren tot ist, wie er in jungen Jahren in einem Wismut-Schacht auf dem Boden hockt.

Am Oberkörper trägt er nur ein Unterhemd, auf dem Kopf einen Helm mit Grubenlampe. Gesicht, Arme, Beine sind verschmutzt. Neben sich hat der Vater eine Erzkiste und in einer Hand einen Geigerzähler, mit dem er die Radioaktivität des Erzbrockens misst. Für Anita Weigel gibt es keinen Zweifel: Das ist der Hauer Walter Fettke - ihr Vater, der 2017, einen Tag vor Heiligabend, verstarb. Als die 67-Jährige wenig später mit ihrem Sohn frühstückt, sagt der fast ein wenig erschrocken: "Das ist ja Opa!" Anita Weigel ist gerührt. Per Handy verständigt sie auch ihre in Tirschenreuth (Bayern) lebende Tochter und ihren Bruder Hubertus Fettke in Schwarzenberg. Da hatten der und seine Söhne aber das Foto längst entdeckt.

Die beiden Geschwister und deren Kinder treibt seitdem vor allem eine Frage um: Wann und aus welchem Anlass entstand das Bild und wie gelangte es in die Zeitung? Sie selbst besitzen es nicht. Vor Jahren hatten sie genau dieses Foto schon einmal auf einem Buch entdeckt, das im Erzgebirge unter dem Titel "Wismut - Erz für den Frieden?" erschienen war. Eine entsprechende Anfrage beim Verlag zu dem Titelbild blieb unbeantwortet. Mit großem Interesse lesen die Fettke-Kinder nun in der "Freien Presse", dass im Rahmen der Aufarbeitung des Wismut-Erbes auch eine Zeitzeugen­befragung geplant ist.

Die Sächsische Akademie der Wissenschaften will gemeinsam mit der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig in den nächsten zwei Jahren etwa 50 ehemalige Wismut-Beschäftigte aus unterschiedlichsten Bereichen über ihr Arbeitsleben und dessen Auswirkungen auf den Alltag befragen. Anita Weigel bedauert, dass ihr Vater nicht mehr dabei sein kann. "Er wäre ein idealer Zeitzeuge gewesen, nicht nur, weil er bis zuletzt auch mit 83 Jahren noch geistig topfit war, sondern weil er von Anfang an dabei war", sagt der 58-jährige Sohn Hubertus Fettke. "Er war überzeugt, dass er mit der Uranförderung einen Beitrag zum Weltfriedens leistet. Damit geprahlt hat er aber nie", ergänzt Anita Weigel.

Von Anfang an heißt: ab 22. Oktober 1948. Walter Fettke war damals 14 Jahre alt. Sein Vater Alfred war bereits zwei Jahre zuvor zur Wismut nach Johanngeorgenstadt zwangsverpflichtet worden. Mit den beiden ältesten Söhnen machte er sich von Görlitz aus auf den Weg ins Erzgebirge - in der Hoffnung, ordentlich Geld für die Familie mit insgesamt zwölf Kindern zu verdienen.

Ein weiteres Bild aus der damals entstandenen Serie

1948 hielt es der jüngere Sohn Walter zuhause nicht mehr aus. Befeuert durch die Berichte des Vaters und der Brüder, wenn sie am Wochenende ab und zu daheim waren, wollte auch er in den Schacht. "Weil er mit 14 keine Chance auf eine Arbeit unter Tage hatte, gab er sein Alter einfach mit 16 an", erzählt Anita Weigel. Immer wieder habe ihr Vater diesen Coup stolz geschildert. "Später log er dann noch einmal: Er habe seinen Dienstausweis verloren. Als ihm ein neuer ausgestellt wurde, nannte er sein richtiges Geburtsdatum: 7. Juni 1934. Damit hatte alles wieder seine Ordnung", schildert die Tochter das, was der Vater vor allem bei Familienfeiern gern erzählt hat.

Im Personalarchiv der Wismut, das sich heute im Hauptgebäude am Schacht 371 in Hartenstein befindet, wird den beiden Fettke-Kindern in diesem Dezember bestätigt, dass ihr Vater nicht der Einzige war, der sich unter Angabe eines falschen Alters einen Job bei der Wismut verschafft hatte. Obwohl die Personaldatenbestände kein öffentliches Archiv sind und nur Wismut-Beschäftigte auf Antrag Akteneinsicht nehmen dürfen, wird in begründeten Ausnahmen das auch Angehörigen ersten Grades ermöglicht. Anita Weigel und ihr Bruder bekommen zwar nicht die von ihrem Vater existierende Karteitasche ausgehändigt, aber zumindest eine Übersicht über seine verschiedenen Beschäftigungsverhältnisse von 1948 bis 1990 - in Johanngeorgenstadt, Schlema, Alberoda und Pöhla. Die Angaben decken sich weitgehend mit dem, was sie vom Vater bereits wissen.

Es sei eigentlich nur der besonderen Historie der Wismut geschuldet, dass das Gros der Personalakten von in Summe bis zu 500.000 Beschäftigten noch existiert, und zwar in Papierform, betont Unternehmenssprecher Frank Wolf. Darin enthalten seien Arbeitsverträge, Lohnnachweise, Auszeichnungen und eventuell besondere Vorkommnisse. Inzwischen sei damit begonnen worden, die Akten der Geburtsjahrgänge 1932 und älter dem Bundesarchiv zu übergeben. "Das wird schrittweise auch mit späteren Jahrgängen fortgesetzt, betrifft aber nur die Unterlegen jener Beschäftigten, die nicht mehr im Unternehmen sind", betont Wolf. Parallel werde daran gearbeitet, alles zu digitalisieren.

Der Aufwand ist enorm. Von manchem nur kurz bei der Wismut Beschäftigten gibt es lediglich eine Karteikarte, von anderen ist eine zentimeterdicke Aktentasche vorhanden. Vom sogenannten Objekt 8 in Breitenbrunn existieren gar keine Personalakten. Keiner weiß warum. Die meisten Anfragen an das Personalarchiv kommen von der Berufsgenossenschaft, wenn es um die Anerkennung von Berufskrankheiten geht, sowie vom Rentenversicherungsträger, wenn Nachweise für Rentenansprüche fehlen.

Die Fettke-Kinder entnehmen den Unterlagen, dass ihr Vater als Maurerlehrling eingestellt wurde. Das ist ihnen neu. Erst ein dreiviertel Jahr später, da war ihr Vater 15 (geschummelt 17), durfte er in Johanngeorgenstadt einfahren und verdiente sich dort bis August 1954 als Hauer sein Brot. Die Arbeit im Schacht sei ihm wichtig gewesen, weil es da 40 Prozent Unter-Tage-Zuschlag gegeben habe, erzählt Sohn Hubertus. Gewohnt habe er in einem Zimmer zur Untermiete in Schwarzenberg, in der Obergasse, weiß Tochter Anita.

Ihr Vater sei nach der Schicht immer mit dem Zug bis zum Haltepunkt Schwarzenberg gefahren, habe am Kiosk eine Bockwurst gegessen und dort auch mit 16 Jahren seine spätere Frau Waltraud kennengelernt. Noch bevor die beiden im September 1952 heirateten, erblickte Tochter Anita das Licht der Welt. Walter Fettke zog mit seiner kleinen Familie ins Haus der Schwiegermutter, die als "Vertriebene" allerdings selbst nicht viel hatte. Ihr Vater habe immer erzählt: "Wir hatten ein Zimmer, ein Bett, einen Schrank, einen Stuhl und ein Kind. Das war alles." Erst ein Jahr später habe sich die Wohnungsnot mit dem Umzug in ein Haus am Schwarzenberger Markt entspannt.

Anita Weigel weiß, dass ihr Vater noch zu den Hauern gehörte, die anfangs unter Tage trocken gebohrt haben. Die enorme Staubentwicklung und das Einatmen von Quarzfeinstaub führte bei ihm schließlich zu Silikose, im Volksmund Staublungenkrankheit genannt. Aus der Personalakte erfährt sie, dass er trotzdem noch bis 1984 als Hauer unter Tage war. Erst ab jenem Jahr akzeptierte er eine leichtere Arbeit: als E-Lokmaschinist - allerdings weiter tief unten im Berg. Und das bis zum Ende der Wismut als Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft 1990. Eine bei ihm 2007 diagnostizierte und mittels Chemotherapie erfolgreich behandelte Leukämie konnte nicht der Arbeit im Schacht zugeordnet werden.

Als er im November 2017, acht Wochen vor seinem Tod, nach Erlabrunn ins Krankenhaus kam, wo bei ihm auch noch ein Lungenkarzinom festgestellt worden war, sagte die behandelnde Ärztin: "Sie wissen, das war der Schacht." Daraufhin habe Fettke geantwortet: "Ja, aber ich würde das wieder machen."

Sohn Hubertus faszinierte der Mythos Bergbau und das Berufsleben seines Vaters schon als Kind, sodass auch er nie etwas anderes werden wollte. "Meine Wahrnehmung war, dass es da einen großen Kollektivgeist unter den Bergleuten gab. Die haben sich nie gestritten. Es herrschte ein rauer, aber ehrlicher Umgangston. Selbst ihre Freizeit und die Geburtstage verbrachten die Kumpel miteinander. Und wenn es dann in den Ferien an die Ostsee ging, wo die Wismut zum Beispiel mit Ferienheimen in Zinnowitz den halben Ort belegte, war man sogar im Urlaub wieder zusammen", berichtet Sohn Hubertus.

Sohn Hubertus Fettke und Tochter Anita Weigel waren im Personalarchiv der Wismut in Hartenstein auf Spurensuche

Gegen den Willen des Vaters erlernt er ab 1978 bei der Wismut den Beruf eines Geologiefacharbeiters. "Mein Vater wollte das nicht. Als er merkte, dass er mich nicht davon abbringen konnte, schränkte er ein: ‚Gut, dann gehe zu den Geologen, aber mache nicht die schwere Arbeit im Berg." Hubertus Fettke wunderte sich, denn sein Vater hatte sich nie über die Schwere der Arbeit beklagt. Im Gegenteil: "Wenn er mal krank war, wollte er sich partout nicht krankschreiben lassen. Nicht mal bei den zwei Arbeitsunfällen, als er sich einmal den Arm gebrochen und einmal den Finger abgequetscht hatte, blieb er daheim", erinnert sich der Sohn. Er meinte, er könne doch seine Brigade nicht im Stich lassen. "Er konnte zwar nicht zupacken, aber er fuhr mit in den Schacht ein." Einmal habe er sogar gesagt, dass er nicht krankmachen könne, weil sonst die Auszeichnung "Brigade der sozialistischen Arbeit" in Gefahr wäre.

Hubertus Fettke, der heute in einem Fitness-Studio in Schwarzenberg arbeitet, ist überzeugt, dass die Wismut-Kumpel in den Anfangsjahren nichts von den gesundheitlichen Gefahren wussten. "Die setzten sich zum Frühstück auf oder neben die strahlenden Erzkisten, packten ihre mitgebrachten Brote aus und rauchten eine dazu. Weil die Hauer im Akkord arbeiteten, aßen sie manchmal sogar im Laufen. Für sie zählte das Geld. Je mehr Meter sie machten, umso mehr gab es in der Lohntüte", gibt Hubertus Fettke wieder, was sein Vater ihm nicht nur einmal berichtet hat.

Dass sich die Ackerei lohnte, bekam die ganze Familie zu spüren. Schon ab 1957 hatten die Fettkes in Schwarzenberg einen Fernseher. Mitunter kamen alle Hausleute zum gemeinsamen Gucken, anfangs in dicken Jacken: "Wenn ihr jetzt einen Fernseher besitzt, habt ihr doch bestimmt kein Geld mehr für Kohlen", glaubten sie. Auch einen Kühlschrank gab es bereits zu dieser Zeit. Und ab 1961 ein eigenes Auto.

"Mein Vater wollte immer genug für die ganze Familie verdienen. Darin sah er seinen Lebensinhalt", erzählt Anita Weigel. "Wir Kinder haben alles bekommen, was wir uns wünschten." Er habe auch nicht gewollt, dass seine Frau arbeitet, obwohl sie stundenweise in einer Wismut-Verkaufsstelle in Schwarzenberg heimlich aushalf - wenn ihr Mann zur Schicht war.

Am 23. Dezember besucht die ganze Familie den Vater: auf dem Friedhof in Schwarzenberg - an seinem Todestag. "Wie stolz wäre er gewesen, wenn er das rund 50 Jahre alte Bild in der Zeitung hätte sehen können", sagt Tochter Anita. Dafür weiß die Familie nun, wie das Foto entstand. Es stammt aus dem Fotoarchiv der Wismut, das nach Angaben von Archivleiter Thomas Hennicke 14.198 Filme und rund 160.000 Fotos im Bestand hat - aber kein öffentliches Archiv ist. Entstanden sind die aus verschiedenen Gründen. Hauptsächlich sind es Aufnahmen, mit denen technologische Prozesse dokumentiert wurden, wie Streckenvortrieb, Rekorde und der Umgang mit verschiedenster, vor allem neuester Technik.

Es gibt aber auch viele Aufnahmen, die für Agitations- und Propagandazwecke gemacht wurden, berichtet Hennicke. Die Bandbreite reicht vom Wismut-Handel, über politische und Brigadeveranstaltungen bis hin zum Ferienwesen der Wismut. Für die Unter-Tage-Aufnahmen sei enormer Aufwand betrieben worden, weiß Hennicke. Für die Schwarz-Weiß-Fotos von Walter Fettke, die am 1. Juni 1962 entstanden, wurden sogar Lampen bis auf die 500-Meter-Sohle geschafft. "Das sieht man an den Lichtern, die da gesetzt sind. Im Normalfall war es dort unten Nacht", sagt Hennicke.

Es sei ein Irrglaube, dass bei der Wismut alles streng geheim gewesen wäre und keiner fotografieren durfte. "Wir haben hier genug Beweise für das Gegenteil. Allerdings bestimmten Entscheidungsträger ganz oben, was und wer fotografiert wurde." Schon ab 1958 existierte das Filmstudio "aktuell", das fast alles auf Film gebannt hat. Es gab 2003 eine Diplomarbeit an der Fachhochschule Mittweida, die sich mit dem gesamten Filmschaffen der Wismut beschäftigt hat.

"Walter Fettke war einer, der so bei unterschiedlichen Arbeiten ins rechte Licht gesetzt wurde", erzählt Hennicke. Den unmittelbaren Anlass und warum ausgerechnet dieser Hauer damals ausgewählt wurde, kennt allerdings keiner.


Quelle: FP vom 14.12.2019


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